Der Entschluss, sein Tagebuch zu veröffentlichen, ist wohl einer der tiefgreifendsten Schritte überhaupt. Intimste Augenblicke werden mit der Welt geteilt, das Innere wird nach außen gekehrt. Für Anais Nin hing die Veröffentlichung ihrer Tagebücher vor allem mit ihrem Verständnis des Künstlers zusammen.
„Es ist die Überzeugung des Künstlers, dass das, was er tut, nicht für ihn selbst sei, sondern weitergegeben werden muss. […] Der Schriftsteller und der Künstler haben das Gefühl, dass ihr Leben notwendigerweise der Öffentlichkeit […] gehört.“
Wer aber war diese Anais Nin überhaupt? Die französisch-amerikanische Schriftstellerin und Feministin galt als Muse großer Männer wie Henry Miller oder Otto Rank und wurde vor allem durch besagte Veröffentlichungen in den 1960er Jahren sowie durch ihre autobiografischen Romane und detailreichen erotischen Erzählungen literarisch bekannt. Viel wichtiger ist aber: Bin ich Nin? So lautete nämlich die Frage des Abends bei der Premiere von „Die Männerspielerin“, die vor wenigen Tagen im Theater unterm Dach in Berlin stattfand.
#ichbinnin
Im Zeitalter von Social Media scheint eine Antwort fast überflüssig. Mit ihrem Schritt in die Öffentlichkeit hat Anais Nin nur das vorweggenommen, was 50 Jahre später zum Massenphänomen geworden ist. Mit ihrem Traum von einem „Café in Space“ gilt sie als Prophetin sozialer Netzwerke und würde sie heute leben, wäre sie wohl eine der aktivsten Bloggerinnen überhaupt. So weit die These, von dem das Theaterkollektiv Portfolio Inc. bei der Inszenierung des Themas ausgegangen ist.
Und ja, wir sind alle ein Stückchen Nin. Plattformen wie Facebook, Instagram oder Twitter sind unser Tagebuch, Friends und Follower unser Publikum. Soziale Netzwerke werden zur Bühne, auf der wir unsere Identität präsentieren oder überhaupt erst entwerfen. Auf der wir uns selbst neu erfinden und jemand sein können, der wir im echten Leben vielleicht gar nicht sind. Auf der wir uns in jedem beliebigen Augenblick mitteilen können und auf der wir nach Anerkennung suchen, nach Aufmerksamkeit und Interaktion.
Ich gehe in mich, um herauszukommen (Anais Nin)
Mit beeindruckendem Ausdruck und noch mehr Charme haben es Judica Albrecht und Thomas Georgi an diesem Abend geschafft, das Publikum auf eine Zeitreise von den dreißiger Jahren ins Jetzt mitzunehmen und gezeigt, wie dieser fast schon zwanghafte Drang nach Aufmerksamkeit damals wie heute unser Leben beeinflusst. Nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern lediglich ein Bewusstsein dafür schaffend, wie viel Privatsphäre in Zeiten von Social Media überhaupt noch existieren kann.
Gerade als Blogger ist das natürlich eine Frage, die man sich immer wieder selbst stellt und stellen muss: Wie viel Persönliches möchte ich mit meinen Lesern teilen, wie viel gebe ich preis? Und sind es nicht genau diese privaten Momente, die dich interessant machen, einzigartig und lesenswert? Genau so wie man auf der anderen Seite fragen könnte: Ist diese Person wirklich der Mensch, der er vorgibt zu sein – oder steckt vielleicht jemand ganz anderes hinter dieser Fassade aus beneidenswerten Fotos zwischen Champagner, Designerhandtaschen und Luxushotels?
Mit vielen Fragezeichen im Kopf habe ich jedenfalls den Theatersaal verlassen – angenehm angeregt von dem Gesehenen. Es ist ein weites Feld, dieses ominöse Internet, das steht fest. Und man muss gut darauf achtgeben, dass es einen nicht verschluckt. Es ist eine Bühne, die unzählige Möglichkeiten für uns bereithält – eine Bühne, die man jedem einzelnen lassen sollte – aber ebenso als solche erkennen muss.
Das wirklich sehenswerte Stück könnt ihr euch noch am 27. Februar, 19. und 20. März, 8. und 9. April 7. und 8. Mai jeweils um 20 Uhr im Theater unterm Dach in Berlin anschauen.
Artikelfotos: PortFolio Inc.
Teaserbild: unseen/photocase.de
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